Sie
stand einfach im Wind, ohne Flügelschlag, in sanftem auf
und ab. Die Häuser lagen tief unten, Majorette-Autos fuhren
auf Spielzeugstraßen herum, mittendrin regelte ein erbsengroßer
Polizist den Verkehr. Sie drehte leicht den Kopf auf der Suche
nach Futter. Dann ein kurzer, heiserer Schrei und sie schmierte
steil nach rechts ab in die Tiefe. Lucie hatte seit dem Urlaub
keine Möwen mehr gesehen. Jetzt kamen sie offenbar den Rhein
herauf, der Winter trieb sie vor sich her und sie brachten Meerluft
mit. Eine steife Brise zog von Nordwesten graue Regenwolken heran,
ein paar kalte Tropfen trafen Lucie ins Gesicht. Das Hochhaus
schien unter den Böen leicht zu schwanken, die Kälte
drang durch sämtliche Kleider, fasste eisig ihre Beine an
bis weit übers Knie. Nylonstrümpfe waren nichts für
diese Jahreszeit, doch wenn das ganze Büro sie trug, was
sollte man machen? Lucie hätte sich's am allerwenigsten leisten
können, hier zurückzustehen.
Ernst
schaute bei Frauen immer zuerst auf die Beine. Er hatte in den
letzten Jahren überhaupt nur noch solche mit makellosen Waden
eingestellt. "Stempel gehören auf die Post", sagte er
jedesmal, wenn Hertha Müller aus der Abteilung "Chemiefasern,
Südeuropa" herüberkam, um die Bestellungen abzuholen.
Der Chef dort war zweiundsechzig und nur noch an guten Zigarren
interessiert. Dem konnte alles egal sein. Ernst hingegen musste
schon aus Gründen der Karriere auf Stil und Eleganz achten.
Lucie fröstelte und zog den Seidenschal enger. Ernst hätte
freilich auch aus innerer Überzeugung keine Sekretärin um
sich herum geduldet, die unförmig in einem langen Rock sich
neben seinem Schreibtisch herumdrückte und hinter dicken
Brillengläsern blinzelnd aufs Diktat gewartet hätte.
Bei ihm musste alles stimmen. Sein Büro und ihr Vorzimmer
bildeten den Mittelpunkt in der Abteilung. Von irgendwo mussten
Stil und Ordnung ihren Ausgang nehmen.
Jeden
Morgen ging Lucie mit einem feuchten Tuch über die Mahagoniplatte,
richtete Kulis und Stifte in seinem Magazin, kochte den Kaffee,
bis er Punkt acht Uhr fünfzehn selbst erschien. Wenn er dann
im Chefsessel die Post las und um halb neun die Frankfurter Allgemeine
kam, die sie diskret daneben legte, ging der Tag erst richtig
los.
Die
Abteilung "Chemiefasern, europäisches Ausland" arbeitete.
Rechts und links von ihrem Doppelbüro kamen der Einkauf und
die Korrespondenz, dann schloss sich die Revision an und die Aquisition,
zuletzt, ganz außen, kamen dann die Schreibbüros. Sie
waren am weitesten entfernt von Stil und Ordnung der Zentrale.
Das Gegackere der jungen Hühner dort ging Lucie oft mehr
auf die Nerven als das Klappern von neunzehn Schreibmaschinen.
Denn es zielte eindeutig in ihre Richtung. Unübersehbar war
Ernst der einzige richtige Mann bei ihnen im vierzehnten Stock
des BASF-Hochhauses. Reinisch und Mannschatz hatten ihr Unterressort
zwar ebenfalls fest im Griff, jedenfalls erinnerte sie sich nicht,
dass es dort je eine Beanstandung gegeben hätte, aber ansonsten
kam keiner von denen über die Reichweite seiner Ärmelschoner
hinaus. Sie kratzten sich überall, tranken schlürfend
ihren Kaffee mit Milch und Zucker. Sie waren allzu offensichtlich
versorgt und im Lauf der Jahre ehelich verfettet.
Sonst
kamen nur noch Bürodiener herauf. Das war allerdings eher
abstoßend. Denn es gab da welche, die konnten eine Frau
mit Blicken ausziehen. Vorne bei den Tippsen fingen sie an, Beine,
Hüften, Brust, Haare zu taxieren und manchmal auch noch den
Hintern. Man war nie sicher vor ihren Blicken. Von denen dachte
keiner daran, daß er in der Karwoche wieder zur Beichte musste.
Die kamen doch alle aus Schifferstadt. So nahm man halt die Laufmaschen
in Kauf, jede Woche ein Paar neue Strümpfe, wenn's die billigen
aus dem Woolworth waren. Höchstens einmal konnte man die
Laufmaschen heben lassen, dann waren wieder zwei Mark fünfundneunzig
weg.
Von
drinnen drang lautes Lachen und Gläserklingen an ihr Ohr.
Lucie lehnte sich über die Brüstung hinaus, damit der
Wind das übertönte.
Am
fünfzigsten Geburtstag war er plötzlich wieder verheiratet.
Schon der giftige Blick seiner Ehefrau hätte sie warnen müssen.
Die wusste alles. Obwohl er immer behauptet hatte, sie ahne von
nichts. Lucie wäre es recht gewesen, wenn alles von vornherein
offen gehandelt worden wäre. Aber Erich konnte sich angeblich
keinen solchen Skandal erlauben. Da wäre er erledigt. Die
ganzen Jahre über hatte sie sich damit hinhalten lassen.
Ein Chef über zwanzig Sekretärinnen, der seiner Frau
nicht sagen konnte, dass er eine andere liebt. Und der sie nötigte,
acht Stunden am Tag so zu tun, als gebe es nur Stenoprotokolle
und vollgetipptes Schreibmaschinenpapier zwischen ihnen.
Es
hätte ja sein können, dass eine von den anderen bei
ihm zuhause anrief. Aus Eifersucht. Das war natürlich nicht
von der Hand zu weisen. Doch Erich Wesbächer fand immer plausible
Gründe, wenn es darum ging, die Einlösung von Versprechen
vor sich her zu schieben. Und trotzdem muss seine Frau alles herausgekriegt
haben. Es war jämmerlich. Es war peinlich. Es war so deprimierend,
dass Lucie nur noch den Raum hatte verlassen können, durch
die Glastür heraus auf den Umgang in zweiundachzig Metern
Höhe. Immer noch betäubt wie nach einem Schlag ins Gesicht,
ließ sie sich im Luftstrom treiben, ihre Lungen füllten
sich mit Meer, und obwohl sie nicht mehr machen musste als auszuatmen,
tat sie es erst, als das Blut in ihren Schläfen zu pochen
begann.
Eine
der Möwen kam so dicht heran, dass man sie fast berühren
konnte. Silbergraues, weiches Gefieder, ein markantes Profil,
schön geschwungene Flügel. Vorsichtig beugte sie sich
noch weiter über die Brüstung und streckte die Hand
aus. Es waren vielleicht noch zwanzig Zentimeter. Der Vogel musste
an Menschen gewöhnt sein, denn er wandte ihr den Kopf zu,
Lucie machte eine hohle Hand und streckte sich noch ein bisschen.
Ihre Zehenspitzen verloren dabei den Kontakt zum Boden. Es war
wie damals in Cuxhaven an der Mole, wo sie einem aus der Hand
gefressen und sich um jedes Stückchen Fisch gebalgt hatten.
Wenn man die Häppchen auswarf, hatte man das Gefühl
abzuheben, der Seewind trug fast den ganzen Körper. Lucie
hätte am liebsten ihre Arme ganz weit ausgebreitet, um endlich
davonsegeln zu können. Über Meer und Land, mit Seidenkopftuch
und wehendem Popelinemantel, die Tasche mit Pass, Schminketui
und vierhundert Mark über der Schulter. Es gab jetzt nichts
schöneres, als alles tief unter sich zu lassen und ruhig
dahinzuschweben, sich treiben zu lassen vom Wind.
Drinnen
erhob gerade Erich Wesbächer das Glas und dankte allen Gästen
für die freundlichen Worte sowie für die vielen guten
Wünsche zu seinem Ehrentag. In besonderer Weise wolle er
die Gelegenheit nutzen, sich bei Herrn Dr. Simon, dem Oberabteilungsleiter
zu bedanken, dessen wohlwollender Förderung und Hilfe er
so vieles verdanke. Es sei ihm eine besondere Freude, dass er
am heutigen Tag auf eine über zwanzigjährige, gute Zusammenarbeit
zurückblicken könne, eine Zeit, die er nicht missen
wolle. An einem Tag wie heute sei man geneigt, dankbar zurückzublicken
und zugleich auch einen Ausblick nach vorne zu wagen ...
Frau
Wesbächer suchte derweil den Raum ab. Achtundzwanzig Personen
ohne die Bedienung, die ganze Abteilung und dazu noch drei Herren
von der Ingenieurverwaltung, sicherlich zwo B.
Die
Donauwellentorte schmeckte etwas fad. Roland konnte einfach nicht
stillsitzen. Sie musste ziemlich bestimmt ihre Hand auf die zwei
Zappelbeine legen. Wie das wohl erst bei der Konfirmation wird?
Da mussten die Buben zwei Stunden lang auf harten Kirchenbänken
ausharren. Musste das alles denn immer so lange dauern?
Marianne
Wesbächer war normalerweise eine geduldige Frau. Doch die
letzten Wochen hatten ihr Zeitgefühl verändert. Der
Tag konnte sich dehnen wie ein Wäschegummi. Wenn Erich weg
war, drohte dieses Gummi manchmal zu zerreißen. Sie hatte
es eigentlich schon länger gewusst. Eine Frau merkt, wenn
sie betrogen wird. Auch wenn ein Mann sich so gut verstellen kann
wie Erich. Dieses Flintenweib. Und dann kommt sie auf seine Geburtstagsfeier.
Eine Person ohne jeden Anstand.
Marianne
Wesbächer wusste durchaus, dass es für einen Mann nicht
einfach war, unter so vielen Sekretärinnen stark zu bleiben.
Sie nahm ein pflanzliches Mittel gegen ihre Gallenkoliken ein.
Jeder Anflug von Schwäche wäre jetzt eine persönliche
Niederlage gewesen. Völlig undenkbar beispielsweise, dass
auch nur einen Tag lang nicht morgens, mittags, abends der Tisch
tadellos gedeckt gewesen wäre, weil sie krank im Bett lag.
Erich war bisher nie auf die Idee gekommen, im Casino zu essen.
Sie wohnten nahe genug am Werk, dass der Weg nach Hause nicht
weiter war.
Doch
Marianne servierte besser und abwechslungsreicher in ihrem Silbergeschirr.
In ihrem Haushalt hätte man vom Boden essen können.
Jede Haarspange hatte ihren Platz. Morgens brauchte Erich garnicht
hinsehen und fand sofort Unterwäsche, Rasierwasser, Krawattennadel.
Es gab nicht den geringsten Grund für ihn, an etwas anderes
zu denken als an ihr gemeinsames Glück im grauen Reihenbungalow
mit Vorgarten und Kieseinfahrt. Ihrer Initiative war auch zu verdanken,
dass man im Aschantidorf wohnen durfte unter den ganzen anderen
Abteilungsleitern und Akademikern. Seit einem Vierteljahr wohnte
sogar ein Direktor in der Parallelstraße. Dafür war
sie monatelang einmal pro Woche bei der Werkswohnungsverwaltung
vorstellig geworden. Erich wäre so etwas peinlich gewesen.
Doch
diese Zigeunerin hatte ein weißes VW Cabriolet. Mit schwarzem,
offenem Verdeck für den Sommer und Chromzierstreifen. Die
hatte keinen abgekriegt. Jetzt machte sie sich an verheiratete
Männer heran. Diese Sorte Frauen schreckte vor nichts zurück.
Die hatten keinen Anstand und keine Ehre in sich.
Was
konnte so eine sich von Erich erhoffen? Da war doch ein Kind und
eine Familie. Wenn diese Person ein bisschen Verantwortung empfinden
würde, dann müsste sie sich sagen: diesem Mann kann
ich doch überhaupt nichts bieten. Die konnte ja noch nichtmal
kochen. Vorne sah sie aus wie ein Bügelbrett. Aß wahrscheinlich
jeden Tag eine Tafel Schokolade und sonst nichts, rauchte und
trank literweise schwarzen Kaffee. Wie all diese Tippsen. Es musste
ja einen Grund gegeben haben, dass keiner sie haben wollte. Die
mit ihren schwarzen Zigeunerhaaren. Erich war einfach naiv. Wie
alle Männer. Er dachte nur ans Vergnügen. Dabei wusste
er doch, wie schnell das alles vorbei ging. Man hätte die
Feier besser zuhause gemacht. Da wäre sie diesem zuchtlosen
Miststück nicht begegnet. Doch das Hantieren mit Lachs und
Mayonnaise, die Spießchen und Soßen, der Küchengeruch
in der Wohnung und in den Kleidern, außerdem machten die
schweren, lachsroten Übergardinen alles ein wenig düster;
im Sommer ja. Bei geöffneten Türflügeln tanzten
abends die Vorhänge auf dem Parkett, der kleine Garten duftete
herein, den Beistelltisch mit den Rauchwaren hätte sie rechts
plaziert, damit die Tür nicht zuschlug.
Eine
Windbö fuhr gegen die Fensterfront und ließ die Luft
in der Cafeteria vibrieren. Auch der Boden schien auf Wind gebettet,
man spürte den zweiundzwanzigsten Stock. Die Tür ging
auf und ein Servierwagen wurde mit klapperndem Geschirr hereingefahren.
Die Papierservietten lagen falsch. Aber das spielte keine Rolle
mehr. Hauptsache das Menü war einigermaßen, dass man
sich nicht blamierte und diese Person hatte sich fortgemacht.
Wo war sie überhaupt jetzt? Sie war einfach rausgegangen.
Durch die Schiebetür. Man sah sie nicht mehr. Sie wird unten
im Büro sein. Aber dort konnte sie auch nicht bleiben, denn
Erich würde irgendwann wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren.
Sie musste versetzt werden. Oder gefeuert. Im Grunde genommen
war das ja strafbar.
Vom
Rhein her tönte dumpf eine Schiffssirene. Die großen Verladekräne
reckten ihre Masten in den Fabrikdunst, schwere Lasten schwebten
über dem Fluss, gehalten von unsichtbaren Stahlseilen. Lucie
blickte hinüber. Alles Starke und Unsichtbare faszinierte
sie. Eine Zeitlang war sie selber so gewesen. Stark und unsichtbar
gegenüber diesem Muttchen mit den blonden Dauerwellen und
der geschmacklosen Brosche, die wie ein riesiges Insekt auf ihrer
Brust hockte.
Als
Kind hatte sie immer Seiltänzerin werden wollen. Seile ließen
Leute stark sein und schweben. Jedesmal wenn der Zirkus in die
Stadt kam, saß sie bei der ersten Vorstellung in der Loge,
wo Manegenstaub durch die Luft wirbelte und man den Schweiß
der Pferde roch. Dann stand sie oben in der Zirkuskuppel, schlug
das Rad in der Luft und wurde auf dem Trapez von Pimpinella zu
Grappo geworfen, der jeden sicher auffing. Die Zirkuskapelle intonierte
Marsch und Mazurka, der dumme August fiel über seine großen
Füße, eine Dicke mit Kreolen, schwarzen Locken und
absurd aufgemalten Augenbrauen häufte fünf Pudel zur
Pyramide an. Man konnte garnicht genug Augen haben, und Lucie
schwebte weiter in der Kuppel, mit einem rosa Schirm und Kleid,
vom unsichtbaren Seil gehalten.
"Ich
Sie prophezeihe große Karriere in Cirkus!" hatte Grappo
mit schnarriger Stimme gesagt. Er war klein und sehnig, trug einen
schwarzen Frack mit Zylinder, sah aus wie ein Zauberer: "Ihre
Füße haben gaanz sichere Tritt, mamamia!". Lucie war nach
der Vorstellung zu seinem Wagen gegangen und hatte wegen dem Matsch
über ein Brett balancieren müssen. "Ich Sie sehe
Primaballerina auf Seil, das Publikum wird sein vernarrt in ihre
wunderschöne Haar, diabolo!" Seine Augen blitzten unter buschigen
Brauen. Dabei hatte Lucie nur ein Autogramm gewollt. Sie war sechzehn
und das Foto mit dem Salto mortale hatte an der Kasse im Fenster
gestanden. Von der Kassiererin war sie herübergeschickt worden
zu den hell erleuchteten Zirkuswagen und Grappo konnte ihre Füße
überhaupt nicht richtig gesehen haben. Aber Pimpinella erschien
in der Tür, lud sie zum Pfefferminztee ein und las ihr aus
der Hand. Ihre Stimme klang heiser wie bei starken Rauchern, teils
atmete sie die Worte, die sie sprach. Sie war überzeugt,
daß Lucie einen reichen Mann heiraten und nach ihrer Karriere
am Lago di Como wohnen werde. Dort könne sie immer Pimpinella
bei ihrer Famiglia besuchen. Sie hätten eine Casa belissima
bei Bellano und ihre jüngere Schwester habe molto Bambini,
von so bis so.... Das war im Jahr als der Krieg anfing und der
Zirkus kam nie mehr zurück.
Erich
hatte Italien anfangs gar nicht gemocht. Es war ihm zu schmutzig.
Und das Essen so ungewohnt: Pesce und Tortellini, die Salate mit
Olivenöl angemacht. Doch sie war ja im Hotel Varese kaum
fünfhundert Meter Luftlinie entfernt und wartete auf ihn.
Das heißt, sie lag tagsüber mit einem breiten Strohhut am
Strand, las "Angelique und der König" oder die Bunte
und wehrte die Papagalli ab. Nur Italien erlaubte einer Frau,
stark und unsichtbar zu sein. Rimini war groß und Lucie
hätte sich jederzeit hinter ihrer großen Sonnenbrille
verstecken können, wenn ihr Frau Wesbächer zufällig
über den Weg gelaufen wäre. Manchmal war sie spätnachmittags
um Erichs Hotel gestrichen und hatte sich Begegnungen ausgemalt.
Richtig fing der Tag immer erst nach 21 Uhr fünfzehn an,
wenn er pünktlich in der Amalfibar erschien, seinen Espresso
trank und sie anschließend mit dem Cabrio durch die Straßen
brausten.
Erich
verwandelte sich dann in einen Träumer. Er rückte den
Beifahrersitz zurück und ließ sich den Wind durchs
Haar streichen. Lucie drehte das Radio auf: "Wenn bei Capri
die rote Sonne im Meer versinkt, und vom Himmel die bleiche Sichel
des Mondes winkt, ziehn die Fischer mit ihren Booten ins Meer
hinaus ...". Sie fuhren die Strandpromenade entlang, ließen
im Gegenlicht finstere Hotelburgen und Palmenhaine an sich vorbeiziehen,
während im Dunkelviolett zum Meer hin erste Lichterketten
angingen. In solchen Augenblicken war es vorgekommen, dass Erich
plötzlich von ihrer gemeinsamen Zukunft anfing. In einem
Häuschen nur für zwei, idyllisch an der Bergstraße
gelegen, mit einem Garten voller Rosen und Chrysanthemen ...
"Bella
bella bella Marie, bleib mir treu, ich kehr zurück morgen
früh, bella bella bella Marie, vergiss' mich nie"
Lucie
behielt die Sonnenbrille auf, bis sie in der Trattoria saßen
und ihren Vino bestellten. Ob sie damals schon ahnte, daß die
Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel herum weniger auffielen,
wenn man Akzente setzt? Inzwischen gab es kein Rouge, keinen Lidschatten,
keine Tönung mehr, die sie nicht schon ausprobiert hatte.
Damals hatte sie nur an Erich gedacht und sich an seine Seite
geschmiegt, die Zeit stand still. Das Leben war ein bunter Urlaubsgruß.
In Italien kümmerte sich niemand darum, wenn ein Mann die
Hand seiner Begleiterin ergriff oder den Arm um ihre Schultern
legte. Selbst im Hotel Varese fragte keiner, ob der mitgebrachte
Herr auch einen Trauschein mitgebracht habe, wie das im Schwarzwald
geschehen wäre und erst recht im Allgäu. An der Reception
kannten sie Erich und man warf sich ein paar freundliche Worte
zu. Sie hätte damals einfach schwanger werden sollen.
Doch
die Jahre waren verstrichen. Waren einfach vorübergegangen
wie eine Fahrt auf der Autobahn Mannheim - Karlsruhe - Basel.
Irgendwie musste sie plötzlich vergessen haben, wie es jetzt
weiterging in Richtung Chur, über den Julierpass ... In den
Sommern, als sie unsichtbar mit Erich in Urlaub gefahren war,
immer in zirka fünfzig Kilometer Abstand hinter ihm, hatte
sie immer gemeint, unterwegs sein verwehtes Parfüm riechen
zu können: eine Fährte von Hättric oder Tabac,
überlagert vom Schweiß der Ehefrau. Die Welt hatte
in Serpentinen unter ihr gelegen, doch sie hatte sich nie die
Zeit genommen, anzuhalten. Wichtig war immer, was vor einem lag.
Ständig tauchten neue Aufgaben auf, neue Herausforderungen;
wie etwa dieses Fräulein Buhmiller mit den hellblonden, schulterlang
verbotenen Haaren, das noch keine Sonnenbrille nötig hatte
und den Rock kniekurz trug. Das hatte sich bisher keine getraut.
Doch Fräulein Buhmiller schaffte 15 Anschläge mehr und
man konnte in der Abteilung auf so jemand nicht verzichten. Hätte
Lucie nur rechtzeitig gewusst, dass Fräulein Buhmiller längst
verlobt war und ein halbes Jahr später den Abteilungsleiter
von "Farben, Südamerika" heiraten würde, wäre
dieses halbe Jahr nicht verlorengegangen. So war ihr manches unter
den Händen zerronnen, ohne dass sie den Mut gefunden hatte,
anzuhalten, auszusteigen und sich die Dinge genauer zu besehen.
Im
Säurebau gegenüber ging plötzlich ein Ventil auf
und entließ zischend gelbliche Dampffontänen. Signalhörner
vom Rangierbahnhof zerschnitten die Luft. Die Fabrik unter ihr
lebte in unruhigem Dämmerschlaf. Nie wusste man, was wo als
nächstes passierte. Die Maschinen, Pumpen, Reaktoren liefen
pausenlos, Leute gingen geschäftig zwischen den Gebäuden
herum, Lastwagen und Autos drängten durch die rußigen
Gassen. Irgendwann öffneten sich Schieber, vibrierten Motoren
und tonnenweise wurde heißes Zeug in die Rohrbrücken
befördert, um irgendwohin, in einen anderen Bau mit neuen
Behältern, Rührwerken und Armaturen geleitet zu werden.
Dort kochten, mischten, brannten sie es erneut, oder füllten
es in riesige Lagertanks um. Wenn dann auf irgendeiner Schreibmaschine
der entsprechende Schein geschrieben und die Rohrpost in eine
der Bürodienerstuben geflitzt war, konnte es sein, dass erneut
abgefüllt wurde in Fässer, Tiegel oder ganze Kesselwagen.
Zum Schluss wurde es davongefahren. Wer mochte sich da noch auskennen?
Das Werk war ein schwarzes Ungeheuer mit wildem Leben in sich,
das unberechenbar, stark, übellaunig, unter seiner Verdauung
stöhnte und fauchte. Man durfte diesem Vieh nicht vertrauen.
Doch
wem durfte man überhaupt noch trauen? Steckte nicht in jedem
Mann ein eben solches Tier, das sich selbst nicht begriff und
jederzeit gefährlich werden konnte?
Gewiss
durfte Lucie sich nicht beschweren. Sie hatte bisher keine Katastrophen
erlebt. Selbst während der Bombennächte im Luftschutzkeller,
als das Viertel ringsherum in Schutt und Asche fiel, war ihr nichts
passiert. Die Tante und ihre Familie waren umgekommen, weil sie
fünfhundert Meter weiter vom Bunker entfernt gewohnt hatten.
Man fand sie Tage später verkohlt, auf Puppengröße
geschrumpft, im Keller eines völlig ausgebrannten Hauses.
Man hätte ihre Schreie im Bunker hören können,
doch die Ventilatoren waren abgestellt, damit die Insassen nicht
an den Brandgasen erstickten.
Und
1944, bei der großen Explosion, war sie eine Stunde vorher
zum Diktat ins Vereinshaus beordert worden. Als sie zurückkam,
lag ihr Schreibtisch unter einem Meter Schutt. Der Bürovorsteher
Rummel, bei dem sie die Registratur und vieles andere gelernt
hatte, wurde zerquetscht unter einem Aktenschrank hervorgezogen.
Lucie schien einem Schutzengel anvertraut. Manchmal fühlte
sie sich schuldig gegenüber denen, die sich das Schicksal
an ihrer Stelle geholt hatte.
Doch
war dieses fortwährende Davonkommen mehr als ein Aufschieben?
Irgendwann, das wusste jeder im Werk, irgendwann würde wieder
einmal einer dieser tausend Kessel in die Luft fliegen oder gleich
ein ganzer Chemikalienbau. Dann würde wieder eine Explosionswelle
das halbe Werk umfegen und Tausende unter sich begraben. Doch
niemand zog irgendwelche Schlüsse daraus. Um Sicherheitsrichtlinien
und Katastrophenpläne kümmerte sich keiner, obwohl so
etwas existieren musste. Wenn das Spektakuläre dann eintraf,
würde jeder so tun, als sei die Katastrophe aus dem Nichts
gekommen.
So
waren die Menschen. Auch sie hatte ihre Zeit verstreichen lassen.
Auch sie hatte es vermieden, aus der Situation irgendwelche Schlüsse
zu ziehen, damit einmal etwas Wesentliches geschah, damit sich
einmal jemand entschied, damit sie einmal einen Schritt vorankam.
Es war einfacher, den Dingen ihren Lauf zu lassen und auf Erichs
Versprechungen zu vertrauen. Sie hatte nie das Hotel in Rimini
betreten. Sie hatte Erich nie mit dem Cabrio von zuhause abgeholt.
"Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann!"
hatte sie geträllert, wenn er mit kleinen Aufmerksamkeiten
an ihrer Wohnungstür erschienen war. Doch dann hatte sie
seine gefüllten Pariser weggeworfen, sobald die Tür
hinter ihm zugegangen war und er zur Ehefrau zurückkehrte,
die seit Stunden mit Migräne auf ihn wartete.
Dabei
wäre es ein leichtes gewesen, ihn zu betrügen. Die Entscheidung
zu erzwingen, indem sie behauptete, eines der Dinger sei wohl
nicht dicht gewesen. Für letzte Schritte hatte ihr Mut nicht
gereicht. So war sie für Frau Wesbächer die ganzen Jahre
über Erichs Chefsekretärin geblieben, die Kaffee kochte
und mit dem Stenoblock bereitstand. Das Geländer war oben
mindestens 10 Zentimeter breit, während ein Seil vielleicht
gerade mal einen Zentimeter im Durchmesser maß...
Erich
Wesbächer räumte mit dem Kaffeelöffel langsam seufzend
das Sahnehäubchen ab. Marianne hatte sich unmöglich
benommen. Ein Glück, dass die anderen das nicht so mitbekommen
hatten. Da wäre ein Fiasko geworden und man hätte sich
allgemein über ihn lustig gemacht. Das konnte ohnehin noch
passieren.
Er
beugte sich über die Götterspeise. Dass zwei Frauen
Forderungen an ihn stellten, fühlte sich an, als ob er zwischen
zwei Pferden eingespannt wäre, die in gegensätzliche
Richtungen zogen. Ein Vierteljahr ging das schon so. Seit Marianne
die Hotelrechnung in seiner Jackentasche gefunden hatte. Doppelzimmer.
Es war auch klar, dass sie ihm die vielen Dienstreisen allmählich
nicht mehr abnahm.
Wie
stur Frauen sein konnten. Sie wollten ihn beide ganz für
sich allein. Das ging doch nicht. Natürlich war Marianne
im Recht. "Bis daß der Tod euch scheidet" hatte es geheißen.
Darauf bestand sie. Doch welcher Mann konnte das durchhalten?
Ahnte sie überhaupt, wieviel sie die ganzen Jahre über
von ihrer Rivalin profitiert hatte? Konnte sie sich nicht vorstellen,
welche Phantasien ein Mann braucht, um nach zwanzig Jahren Ehe
noch die ehelichen Pflichten erfüllen zu können? Inzwischen
war es so, dass er bei Marianne an Lucie und bei Lucie an Marianne
dachte. In letzter Zeit allerdings auch an eine der anderen im
Büro, die allesamt im Wettbewerb standen, wenn man von Karla
Hegner einmal absah.
Wie
sollte das alles weitergehen? Wenn beide ihn vor eine solche Entscheidung
stellten? Er hätte am liebsten alle zwei losgehabt. Einfach
morgens aus dem Haus und verreist, weit weg, ganz allein. Er konnte
sich bei keiner durchsetzen. Immer gab er derjenigen recht, die
gerade da war. Wie sollte man sich wehren, wenn Lucie seine Worte
in Rimini beschwor, Marianne jedoch die bevorstehende Konfirmation
ins Feld führte und seine Verantwortung als Vater...
weiter
...