"An Himmelfahrt steht der Himmel ganz offen, damit der Herr Jesus hinauffahren kann", sagte Fräulein Schrader und malte mit weißer Kreide einen Heiland mit langem Kleid an die Tafel, der auf einer weißen Wolke stand. Links davon war mit grüner Kreide das letzte Abendmahl gezeichnet, dann in Rot das Kreuz und in leuchtend Gelb die Auferstehung. Hellblau beschieden sich die Pfeile, die von links nach rechts anzeigten, in welcher Reihenfolge die Heilsgeschichte voranschritt. "Himmelfahrt ist ein schöner Tag, weil unser Herr Jesus seitdem beim lieben Gott auf dem Thron sitzt und die Welt ansieht. ER sieht auch uns". Während unsere Buntstifte emsig über das Papier unserer Religionshefte glitten, stellte ich mir vor, wie Fräulein Schrader eines Tages ebenfalls auf so einer Wolke stehen und lobpreisend auf uns herabblicken würde, denn sie hatte die gleichen bodenlangen Röcke an wie die Jünger. Nichts als graue Wollstrümpfe waren darunter zu sehen, darüber eine blaue, hochgeschlossene Bluse, die sie selbst im Hochsommer nicht öffnete. Sie war eigentlich die einzige, der man zutrauen konnte, an einem Tag wie Himmelfahrt die Kraft, die jeden Stein zu Boden fallen lässt, so zu ignorieren, wie es im "Schild des Glaubens" vorgezeichnet war: indem sie nämlich mit einem würdevoll geflöteten "Lebetwohl" alle Niederungen unter sich ließ und in den strahlendblauen Frühlingshimmel entschwand.

Vorläufig jedoch weilte sie noch unter uns und hörte den Katechismus ab: "Welches sind die Eigenschaften Gottes, Wilhelm?" Ich wäre gern so schlau gewesen wie Wilhelm, der sich einen Vers zweimal durchlas und ihn dann konnte: "Gott ist ewig und unveränderlich, allmächtig und allgegenwärtig, allwissend und allweise, heilig und gerecht, gütig und barmherzig, treu und wahrhaftig. Er ist unser Vater in Jesus Christus". Gott hatte mich weder schlau, noch stark genug gemacht, um in der Schule eine Rolle zu spielen. Ich war froh, wenn ich den Liedvers, der für heute auf war, stockend unter dem Takt von Fräulein Schraders Zeigefinger von mir geben konnte: "Wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du gen Himmel g'fahren bist, Halleluja - haha, Halleluja".

Ich verstand nicht ganz, warum man Jesus dafür danken sollte, dass er zum Himmel gefahren ist, wo er doch gar nichts angestellt hatte. Normalerweise fuhren Leute zum Himmel, die alt waren oder denen es irgendwie recht geschah. Doch jemanden wie ihn hätte man am liebsten als Nachbarn gehabt, damit er immer zur Stelle war, wenn das Fahrrad kaputt ging oder die Schwester sich auf dem Brascheweg die Knie aufgefallen hatte. Fräulein Schrader jedoch sagte, er sei zu seinem Vater zurückgekehrt. Zu Gott, dem Vater. Dahin, wo er an Weihnachten hergekommen sei. Und wo man herkam, dahin müsste man irgendwann auch wieder zurück.

Es dauerte nicht mehr lange, bis dieser Tag tatsächlich an den Himmel kam. Weiße Watteschiffchen trieben als Wolken auf einem tiefblauen Ozean. Wir waren früh aufgebrochen, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Weißdornbüsche und Akazien streckten ihre blühenden Äste in den Bahndamm, der Fahrtwind ließ sie wie mit Taschentüchern winken. Als unser Zug den Heidelberger Hauptbahnhof in Richtung Neckartal verließ, schnürte die Großmutter den grauen Rucksack mit dem Lederbesatz auf und kramte Leberwurstbrote hervor. Ich kaute mit Bedacht, blickte durch das Zugfenster dem Lauern der Rüttler und Gabelweihen über den Kornfeldern nach. Alles wogte im Frühlingswind, selbst der Zug, wenn er sich in Kurven legte, schien die Bewegung zu kennen. Wenn die Lok vor den Tunnels pfiff, besuchte ich im Dunkeln kleine Honigkuchenträume von reisenden Zugvögeln über sanften Flusstälern, die nach Majoran und Schwarzbrot rochen.

Es ging langsam voran, weil hier jeder kleine Ort besucht werden wollte. Der schwer schnaufende Schaffner kam kaum nach mit dem Knipsen der Fahrkarten. Langsam wurde es lauter im Abteil, denn Männer mit gelben Strohhüten bestiegen den Waggon. Die lärmten und riefen sich beim Vornamen. Sie rochen nach Bier, hatten grün-weiße Schnüre am Hemd und an der Hutbanderole, es wurde gesungen und gelacht. Heute musste ein lustiger Tag sein, es erinnerte an Karneval. Der Großvater jedoch senkte Augenbrauen und Stimme, raunte der Oma zu: "Leichtsinnige Kerl, deeden besser dehemm bleiwe unn was schaffe".

Mein Großvater hätte sich niemals so benommen. Sein Reden war gedämpft, verhalten, als ob er Geheimnisse zu bewahren hätte. Hosen, Hemd und Janker trug er nur in gedeckten Farben, sein Hut hatte eine Regenrinne, ihn konnte nichts überraschen, er überraschte auch niemanden.

Mir gefielen die Männer. Mein Vater musste auch so einer gewesen sein. Auf meinem Lieblingsfoto stand er im Monteursanzug neben einem schweren Motorrad und zeigte, einen Kameraden am Arm, mit der Bierflasche aus dem Bild heraus auf mich. Wenn ich in der Schule war, zeigte er lachend auf mein ungemachtes Bett. Die Großmutter wollte das Bild im silbernen Zierrähmchen schon wegtun, aber ich bestand darauf, dass es auf dem Nachttisch blieb.

Einer der Ausflügler holte ein Kartenspiel heraus und begann auszuteilen. Ein anderer steckte ihm einen Strauß Wiesenblumen an den Hut, der ihn wie ein bunter, verzottelter Gamsbart schmückte. Ein dritter prostete den übrigen Fahrgästen zu. Eine Omi, die sich gerade die blaugeblümte Bluse aufgeknöpft hatte, um unter ihren schwitzenden Massen mehr Luft zu bekommen, prostete mit hochrotem Kopf zurück. Die kleine Steinhägerflasche zitterte leicht in ihrer Hand, als sie zwei Schlückchen nahm.

"Wie Fraue sich so vulgär benemme könne", giftete meine Oma. Ihr strafender Blick schweifte im ganzen Abteil umher. Klar, da gab es einiges, was ihrem gesunden Empfinden widersprach. Beispielsweise das junge Pärchen, das uns schräg gegenüber saß und nur mit sich selbst beschäftigt war. Dass man nichts dabei fand, sich hemmungslos in aller Öffentlichkeit zu küssen, konnte nur ihr energisches Kopfschütteln hervorrufen. Ich konnte mich auch nicht erinnern, daß ähnliches sich je bei uns zuhause zugetragen hätte.

In Neckargemünd stiegen wir aus. Zusammen mit einer bunt zusammengewürfelten Zecherschar ging es zunächst über Kopfsteinpflaster, dann auf einen Waldweg, über Wurzeln und Steine vorwärts in den Odenwald. Ein Leiterwagen überholte uns mit Bierkästen und einem Holzfass obenauf, geschmückt mit jungen Birkenreisern und rot-weißen Bändern. "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren" und "Wenn das Wasser im Rhein lauter Wein wär, ja da möcht ich so gern ein Fischlein sein", sangen und grölten zehn feuchtfröhliche Kehlen vor uns. Wir waren langsamer als die anderen, weil der Großvater seiner Kriegsverletzung wegen am Stock ging. Dabei wusste er noch ganz genau, wie das Marschieren funktionierte.

Er hatte sogar noch den Stechschritt gelernt, damals, im Jahr 1917, als alle Freiwilligen im Dorf nach München "eingerückt" sind. Nach München, weil die Pfalz zu Bayern gehörte. Dort waren sie geschliffen worden: "Rrreechts um...die Augen links... undeinsundzwei undeinsundzwei undeinsundzwei..." Dann die Übungen im Feld. "Auf, nieder, auf nieder, auf nieder, auf", hatte der Unteroffizier über den Exerzierplatz gebrüllt. Wenn er schlecht gelaunt war, fand das "Auf nieder auf" in der Pfütze statt. Und wehe, einer wagte zu murren. Dann kam man sofort in den Bau.

Der Großvater wusste das alles noch so genau, als wäre er gestern erst aus der Kaserne zurückgekehrt. Auch wie sie auf der Stube dem Heiner aus Leipzig mit dem seltsamen Dialekt Pferdeäpfel ins Essgeschirr praktizierten, um nachher über seine sächsischen Schimpftiraden lustig zu machen. Er ist ein Vierteljahr später bei Tournai gefallen. Und dann: "Präääsentiert das Gewehr...". Da konnte bis heute keiner dem Opa etwas vormachen. Nur brauchte er einen Halt für die rechte Hand, wenn er's vor mir demonstrierte. Denn der Krieg hatte sein Kreuzbein zerbrochen, und jetzt war alles verwachsen. Es konnte passieren, dass er plötzlich dalag und alle Viere in die Luft streckte wie ein Maikäfer. Das geschah glücklicherweise selten, denn der Stock glich alles aus. Man hatte zuweilen den Eindruck, er sei bei ihm angewachsen wie ein drittes Bein. Überhaupt verstand er es meisterhaft, Ungleichgewichte jeder Art auszubalancieren.

Hier im Wald war an Exerzieren natürlich nicht zu denken. Dafür erzählte er ausführlicher vom Unterricht am Transportfahrzeug, von Fahrten in überfüllten Zügen zum Ruhrgebiet und schließlich vom Feldeinsatz nach Nordfrankreich bei Arras und Lille, wo die Front manchmal mitten durchs Dorf gegangen sei. Wenn überall die Granaten einschlugen und man trotz Feindbeschuss aus dem Graben musste, gab es nur Befehl und Gehorsam. Der Soldat musste funktionieren wie ein Uhrwerk. So zuverlässig und präzise, daß man meinen konnte, er sei ferngelenkt. Befehl und Gehorsam, Material und Technik, das entschied den Krieg. Vom Material hatte "der Engländer" und "der Franzos" am Ende mehr, weil der "dreggische Amerikaner" sich eingemischt hatte, wo es ihn doch gar nichts angegangen war. Wenn es nach der Disziplin gegangen wäre, hätten "wir" den Krieg gewonnen. Bei seinem Lieblingsthema konnte sich der Großvater in Rage reden, dass er mit dem Stock in der Luft herumfuchtelte und manchmal einen Stein übersah. Es sei ausgemachtes Ziel der Sieger gewesen, "den Deutschen" nach dem Krieg nie mehr hochkommen zu lassen.

"So hänn die Angscht vor uns ghatt". Er stieß mit dem Stock auf den Boden und ging weiter, mit gemessenem Schritt. Ohne den Stock war er nicht vorstellbar. Die Regelmäßigkeit seiner Maserung, gelber Bambusstamm mit braunen Ringen, der Taktschlag seiner Gummistütze beim Gehen, der an ein Uhrwerk erinnerte: To tock, to tock, to tock taa, to tock to tock, to tock taa...

Da der Waldboden holprig war und sich jeder Präzision widersetzte, waren uns alle anderen inzwischen weit voraus. Meine Ungeduld verband sich mit den Kriegsereignissen und ließ mich immer mal wieder ein Stück vorausmarschieren, den Feind beobachten, um mich dann wieder im Schutz der Gebüsche zurückzuziehen. Doch als die Sonne immer höher stieg und grell zwischen den Zweigen hindurchstach, ließ ich das sein. Schwärme von Mücken fielen über uns her, angelockt von Schweiß und Stöhnen. Der Großvater musste ab und zu Pause machen, um zu husten. Heute war es schlimmer als sonst. Ich hörte irgendwann auf, die Straßen der Waldameisen zu zählen, die Wurzeln, die Felsen. Wie froh war ich, als endlich die ersten Häuser des Dorfes auftauchten, wo wir zum Mittagessen einkehren wollten. Für die Bauernhäuser, die Ställe, Schuppen und Scheunen, die sich rechts und links an der Dorfstraße aufreihten, hatte ich keinen Blick.

Erlöst schlich ich die ausgetretene Steintreppe zum Gasthaus "Krone" hinauf. Die Wirtsstube war kühl, obwohl alles voller Leute war und der Zigarettenqualm zum Schneiden stand. Wir bekamen im Nebenzimmer einen kleinen Tisch.

Kaum hatte ich die ersten Züge mit dem Strohhalm an der Blunaflasche getan, tauchten zwei bekannte Gesichter bei uns auf. Es stellte sich heraus, dass man verabredet war und die Familie Schlickel schon auf uns gewartet hatte. Herr Schlickel, in braunen Gamaschen und großkarierem Hemd, streckte mir seine Pranke hin, ich hielt den Atem an, um den Schraubstockdruck ohne Stöhnen auszuhalten.

Wir wechselten den Tisch, sie hatten für uns drei Stühle schräggestellt. Die Unterhaltung drehte sich zunächst um den Bürovorsteher Simgen, der vor kurzem einen Herzinfarkt erlitten hatte und dessen Witwe nur 60 Prozent von der Rente bekam. "So wird de kleene Mann ausgenutzt bei uns". Die Ungerechtigkeit war dadurch auf die Spitze getrieben, dass er nur 4 Wochen nach seiner Pensionierung gestorben war und daher "nix scheenes mehr" erlebt hatte. Doch die Welt lag auch in anderer Hinsicht im Argen:

"De Brandt will jetzt Kanzler werre. Der rot Stromer, jetzt isser sogar noch SPD Vorsitzender", empörte sich Herr Schlickel. Die Hirschhornknöpfe auf seiner Lodenjacke bebten, als er fortfuhr: "Unehelisch! Im Krieg noch Norwege abgehaue, wu mer alle de Kopp hawwe hinhalte müsse".

"De Adenauer awwer ah. Der hot sich halt im Kloschter versteckelt", entgegnete der Großvater.

"Jo, die were all wegkumme domols. Wenn der Zusammebruch net kumme wär. Ich hab eeneverzich schon gesagt, wie kann en Hitler jetzt aah noch mit'm Russ anfange? Es hätt doch gelangt mit'm Enländer unn mit'm Franzos. Der war größewahnsinnich".

"Awwer eens muss mer doch sage - Im Nochennoi: Was de Russ jetzt alles macht, so total unrecht hott de Hitler net gehabt".

"Ich glaab, do wird ah viel uffgebauscht. Sechs Millione Judde. Mir hawwe in Russland ken eenzicher Judd gesehe, wo erschoss worre iss. Die Sieger hänn halt immer recht unn unsereens, de kleene Mann, mir müsse alles glaawe. Unn bezahle. Do druff laaft's doch naus".

Der Großvater nickte.

"Unn jetzt de Brandt als Kanzler unn de Wehner als Minischter, der Kommunischt, des bringt uns ganz in de Ruin", ergänzte Herr Schlickel und machte eine wegwerfende Handbewegung. Er hatte ein ganz verquollenes Gesicht und roch aus dem Mund nach faulen Fischen.

"Wann die Rote jetzt drankumme, dann isses ganz vorbei mit Deitschland. De Amerikaner hott sowieso schunn alles versaut mit Anstand unn Sauwerkeit. Beim Hitler hetts des doch net gewwe, dass e Fraa sich nachts net aus'm Haus traut. Ma kann iwwerne sage was mer will. Awwer es war äfach Ordnung".

Auch da stimmte der Großvater grundsätzlich zu. Doch als Herrn Schlickels Rede in der Feststellung gipfelte: "Die Sozestromer liefere uns am End noch an de Kommunismus aus", legte er den Kopf schräg. Er wollte sich auch nicht gern vorstellen, was gekommen wäre, wenn "der Adolf" den Krieg gewonnen hätte. Er hatte zwei Weltkriege mitgemacht, "zweemol hawwe se uns Kleene ins Feier gejagt unn die Große hawwe im sichere Bunker gehockt"...

Herr Schlickel hatte nur einen Weltkrieg mitgemacht. Diesen allerdings um so begeisterter: "In de Ukraine, mit unserem MG 34, do sinn die Russe umgefalle wie die Migge". Ich kannte das alles schon.

Die Frauen erzählten sich, was im "Neuen Blatt" und in der "grünen Post" über den Zustand der europäischen Fürstenhäuser zu lesen war. Bis die Leberknödel mit Sauerkraut und die Bratwürste mit Kartoffelsalat aufgetragen wurden - für den Bub eine halbe Portion - wurde der Seelenzustand von Königinmutter Juliana und das Verhältnis zum Schwiegersohn Claus, der zu Schwermut neigte, abgehandelt, und das furchtbare Schicksal der Ex-Kaiserin Soraya, die ohne den Schah so schwer zurechtkam.

Meine Augen gingen derweil an den Nebentischen spazieren, beobachteten den Familienvater, der bestimmt den zehnten Jägermeister hinunterkippte und sich am Tresen festhielt, weil das Essen zu lang dauerte. Sie erblickten den Pudel, der unterm Tisch häppchenweise mit paniertem Schnitzel gefüttert wurde, welches ein blass bebrillter Sohn voll Widerwillen unter den Tisch beförderte. Dann standen die dampfenden Teller vor uns: Berge von Kartoffelpüree und Kraut. Ich drückte nach und nach anderthalb Leberknödel hinunter, die dicker waren als die Schlagbälle, welche bei den Bundesjugendspielen Verwendung fanden und die ich mit meinen dünnen Armen kaum zehn Meter weit warf. Wir befanden uns offensichtlich in einem der berühmten Odenwälder Fresslokale, wo das Wellfleisch über die Ränder der Schlachtplatte ragen musste und keiner ohne Magendrücken den Tisch verließ.

Was mein Vater an solchen Tagen wohl gemacht hatte? Den Overall trug er auch, wenn er zu Besuch kam. Dann roch er abenteuerlich nach Zigaretten und Motorenöl. Aber es hatte immer Disput gegeben. Zuletzt - es war einen Tag vor Heiligabend - ist unter Gebrüll eine Sardinenbüchse durch die Küche geflogen und über dem Herd an die Wand geknallt, wo sie einen hässlichen Ölfleck hinterließ. Der Großvater war nicht abzubringen von seiner Meinung, dass ein Familienvater sich um Frau und Kinder zu kümmern habe, anstatt Motorradrennen zu fahren und mit Segelflugzeugen am Himmel herumzukurven. Ein solider Beruf, Handwerker - Handwerk hat goldenen Boden - oder besser noch, Angestellter - jemand, der in Anzug und weißem Kragen zur Arbeit ging und sich nicht schmutzig machen musste - das war bei ihm unabdingbar für jemanden, der seinen Namen trug. Mit einem solchen Sohn wäre er Sonntags gern im Ebertpark spazieren gegangen, mit dem Stock im Anschlag, und hätte stolz die ehemaligen Arbeitskollegen gegrüßt, ohne ein Gespräch anzufangen, einfach nur so. Und bei einem früheren Chef wäre die Verbeugung etwas tiefer ausgefallen. Im Wissen allerdings, dass sein Willy eine Gehaltsstufe höher lag als der ehemalige Chef: To tock, to tock, to tock taa...

Aber stattdessen war sein Sohn ein "leichtsinniger Kerl" gewesen. Einer, der nicht gern "schaffte". Der die Berufsausbildung nicht zu Ende geführt und mit falschen Freunden die Nächte durchzecht hatte, statt für die Schule zu lernen. Ein Springinsfeld, der die Stirn gehabt hatte, ein Kind in die Welt zu setzen, ohne sich recht darum zu kümmern. Noch nicht einmal die Mutter fragte nach mir. Aber die Gerlinde war ja ohnehin eine "taube Nuss" und der Anfang von Willy's Unglück gewesen. In diesem Urteil waren sich die Großeltern, die sonst oft zerstritten waren, einig.

Freilich, so wie er waren damals viele: "In Russland, in de Gefangenschaft sinn die all verdorwe worre, hawwe Kartoffelschale aus'm Mülleemer esse müsse, dass se net verhungert sin", pflegte die Großmutter zu sagen. Sie hatte mehr Verständnis für den Sohn, immer schon. Das war falsch, sie wusste es. Die Erziehung zur Liederlichkeit war denn auch zum großen Teil auf ihr Konto gegangen. Der Großvater hatte sowieso wenig Anteil an der Erziehung genommen, weil er frühmorgens das Haus verlassen hatte und abends erst gegen sieben aus der Fabrik zurückgekehrt war. Da bestand seine Aufgabe meist darin, übertags ausgesprochene Drohungen wahrzumachen und den Sohn für alles abzustrafen. So war das Vater-Sohn Verhältnis von Anbeginn handfest verkrampft, während das Verhältnis zur Mutter viele Wege kannte. "Mer kann froh soi, daß die iwweerhaupt noch emol zurick kumme sinn", hörte man sie immer beschwichtigen, wenn er die Jugend insgesamt dabei war zu verdammen. Das war auch wieder wahr. Danach pflegte er meist milder gestimmt zu sein, doch der Willy war dann längst türenknallend aus dem Haus gestürmt.

 

 

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